FREIE WÄHLER WINTERBERG & ORTSCHAFTEN
Sind unsere Städte noch zu retten?
Erst kamen die Handelsketten, dann der Online-Handel und jetzt die Corona-Pandemie: Unsere Innenstädte drohen immer mehr zu veröden. Und sie werden immer unbezahlbarer.
06.06.2021
Bild: Videoscreenshot (Text: © by ZDF)
Wenn sich das Laden-Sterben weiter fortsetzt und zugleich die Mieten steigen, was bleibt dann noch von einer Stadtkultur, in der sich die Menschen gerne aufhalten? Das fragt Richard David Precht Burkhard Jung, Oberbürgermeister von Leipzig und Präsident des Deutschen Städtetages.
Leere Städte, neue Ideen
Während der Corona-Pandemie wurde überdeutlich, was schon zuvor begonnen hatte. Der Online-Handel setzt den Kommunen mehr und mehr zu, frisst den stationären Handel und verödet dadurch die Innenstädte.
Ich würde alle großen Online-Händler mit einer deutlich erhöhten Mehrwertsteuer belasten, die genau das ausmacht, was der Einzelhändler an Mehrausgaben hat.
Richard David Precht
Richard David Precht fürchtet, dass mit den immer leereren Städten das Motiv der Bürgerinnen und Bürger verschwindet, sich dort aufzuhalten und andere zu treffen. Die Stadtkultur, die seit den Tagen der antiken Polis die Demokratie und die gemeinsame Öffentlichkeit prägt, droht zu verschwinden. Sind unsere Städte noch zu retten? Welche Maßnahmen hätten hier Aussicht auf Erfolg? Man müsste beispielsweise den Online-Handel steuerlich deutlich mehr fordern, um den realen Einzelhandel noch erfolgreich zu stützen, meint Precht.
Mehr Begegnungen, weniger Konsum
Oder muss sich die Gesellschaft wohlmöglich mit dieser Entwicklung abfinden und die Stadt und ihre Funktionen für die Zukunft neu erfinden? Was ist denn so schlimm daran, fragt Precht, wenn Innenstädte nicht mehr vom Einzelhandel und von Kaufhäusern dominiert werden? Bietet diese Entwicklung nicht mehr Möglichkeiten für sozialen und kulturellen Raum? Für eine echte Polis, in der sich die Bürger tatsächlich mit ihren Angelegenheiten beschäftigen und nicht nur konsumieren? Burkhard Jung plädiert für das Ideal der Europäischen Stadt, in der Leben, Handel und gesellschaftliches Zusammensein auch in Zukunft ihren Platz haben können.
Welchen Einfluss hat die immer stärkere Verlagerung des Konsums und des sozialen Miteinanders ins digitale Netz letztendlich auf das städtische Leben? Werden Ballungszentren überflüssig? Oder verteilen sich unsere analogen sozialen und kulturellen Aktivitäten zukünftig auf viele kleine Lebensräume, fragt Precht.
Mietpreisdeckel gegen Armut
Die Mietpreisbremse muss massiv und offensiv durchgesetzt werden. Und wir brauchen auch in irgendeiner Weise einen Deckel.
Burkhard Jung
Marode Innenstädte sind auch die Folge der immer drastischeren Schere zwischen Arm und Reich. Steigende Mieten treiben viele an den Rand der Stadt. Außer in den attraktiven Metropolen werden kleine und mittlere Städte so immer mehr zum Sinnbild einer sozialen Verwahrlosung, sagt Precht. Burkhard Jung fordert in diesem Zusammenhang, dass man die Mietpreise nicht allein dem Markt überlassen könne. Man müsse weiter über einen Mietpreisdeckel nachdenken.
Welche Ideen hat Burkhard Jung als Oberbürgermeister von Leipzig und Präsident des Deutschen Städtetages anzubieten? Wie stellt er sich eine florierende Stadt der Zukunft vor, in der soziales Miteinander, Mobilität und Klimaverträglichkeit gelingen können?
- Burkhard Jung (SPD), 1958 in Siegen geboren, ist seit 2006 Oberbürgermeister von Leipzig und seit 2019 Präsident des Deutschen Städtetages.
- Jung studierte bis 1984 Germanistik und Evangelische Theologie in Münster und war ab 1986 als Lehrer am Evangelischen Gymnasium in Siegen-Weidenau beschäftigt. 1991 wechselte er als Schulleiter an das neugegründete Evangelische Schulzentrum Leipzig.
- In der Nachfolge von Wolfgang Tiefensee bewarb er sich 2005 für das Amt des Oberbürgermeisters von Leipzig und wurde im zweiten Wahlgang gewählt, 2020 begann seine dritte Amtszeit.
- Jungs Themenschwerpunkte als Oberbürgermeister sind die Schulentwicklung, der städtische Nahverkehr, die Kulturpolitik und eine nachhaltige Klimapolitik. Jung sitzt in verschiedenen Aufsichtsräten, ist u.a. Vizepräsident des Europäischen Städtenetzwerks EUROCITIES und Vorsitzender des Stiftungsrates der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Stiftung.
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